Projekt Beschreibung

Die Gründung der VDP

Text von Evelyn Crellin

Gründung auf Gut Petersau

Gründungspräsidentin Mutz Trense

Anwesenheitsliste anläßlich der Gründungsversammlung der VDP

Das Jahr 1968 ist fraglos eines der interessantesten und widersprüchlichsten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Einerseits ist es in Deutschland ein Jahr der sentimentalen Werte: Heintje dominiert die Hitparade mit „Du sollst nicht weinen“ und „Heidschi Bumbeidschi“, Peter Alexander besingt den „Letzten Walzer“, Senta Berger und Heinz Rühmann bekommen den Bambi verliehen. Selbst dass der 1. FC Nürnberg nach langem Dornröschenschlaf und einer sensationellen Saison Deutscher Meister in der Fußball-Bundesliga wird, hat mehr unterhaltenden denn verstörenden Charakter.

Andere Ereignisse sind da schon aufrüttelnder: 1968 ist das Jahr, in dem die Hongkong-Grippe zwischen 750.000 und einer Million Menschenleben fordert und bei einem Erdbeben in Indonesien mehr als 68.000 Personen sterben. In Vietnam zeigt die Tet-Offensive zum ersten Mal, dass die USA den Vietnam-Krieg verlieren könnten. Studenten in Berkeley, USA, beginnen daraufhin, gegen diesen Krieg zu protestieren. Studenten an der Sorbonne folgen, und bald brechen überall Unruhen aus: Von Berkeley bis Berlin, von Bangkok bis Buenos Aires, von Kairo bis Kapstadt, von Istanbul bis Irland, von Paris bis Prag, von Mailand bis Mexiko protestieren Jugendliche weltweit gegen etablierte Ordnungen.

Langhaarige Hippies prägen das Straßenbild, und selbst die Mode revoltiert: Frauen tragen verstärkt Hosen und – schlimmer noch – extrem kurze Miniröcke. Yves Saint-Laurent und andere Designer stecken ihre Models in transparente Blusen und erklären – mit sehr durchsichtigen Motiven – dies zum Ausdruck von Protest­kultur.

Der Prager Frühling fordert „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, in China ist Maos „Große Proletarische Kulturrevolution“ in vollem Schwung, Kalifornien ergeht sich in LSD-Genuss und psychedelischer Musik, während Senator Robert F. Kennedy und der Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet und mehr als einhundert US-amerikanische Innenstädte von Rassenunruhen erschüttert werden. Bei den Olympischen Spielen in Mexiko demonstrieren afroamerikanische Athleten mit gereckter und geballter Faust gegen ihre Diskriminierung, das Fernsehen überträgt diese Geste weltweit. Deutschland hingegen wird erschüttert von der Einführung der Mehrwertsteuer, dem beginnenden Contergan-Prozess in Aachen, dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke und einem Brandanschlag, den die Gruppe um Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Frankfurt begeht. Der Terrorismus der Rote Armee Fraktion ist im Anmarsch. Im Juni treten die Notstandgesetze in Kraft und überschatten völlig die Sensation der Einführung der Tiefkühlkost durch das Quelle-Versandhaus. Im dänischen Billund eröffnet das erste Legoland, und fünf Großmächte unterzeichnen den internationalen Atomwaffensperrvertrag. Die Tupolew Tu-144, das erste Überschall-Passagierflugzeug, absolviert ihren Jungfernflug, und Apollo 8 umkreist zum ersten Mal den Mond.

Und inmitten von Protesten und Unruhen, anti­autoritärer Auflehnung und Infragestellung des Althergebrachten treffen sich 1968 neun deutsche Fliegerinnen in Petersau, einem winzigen Ortsteil von Frankenthal-Mörsch, unweit von Worms. Hier liegt, in einer idyllischen linksrheinischen Flussaue, das Gut Petersau, eine große Hofanlage inmitten von weitläufigen Feldern, Weiden und Auen, deren Anfänge bis in das 13. Jahrhundert zurückreichen. Für Jahrhunderte in Kirchenbesitz, war das Gut 1803 säkularisiert worden und 1860 in Privatbesitz übergegangen.

Eingeladen zum Treffen am 9. April 1968 hat Mutz Trense, denn Petersau gehört seit 1934 ihrer Tante Irmgard von Opel. Irmgard war in den 1930er Jahren die wohl beste Dressur-, Spring- und Vielseitigkeitsreiterin der Welt. 1934 hatte sie als erste Frau das Deutsche Springderby gewonnen, das Kenner als das schwerste Springen der Welt betrachten. Mutz wächst bei ihrer Tante auf und erlebt aus erster Hand, wie diese nicht nur erfolgreich mehrere landwirtschaftliche Betriebe aufbaut, sondern auch in der männlichen Domäne der Reiterei Triumphe feiert. Und nun sitzt Irmgards Nichte auf dem idyllischen Hofgut und plant ihren eigenen Aufbruch in eine Männerdomäne. 1968, das Jahr der Unruhen und Proteste, scheint gerade die richtige Zeit dafür.

Ganz plötzlich kommt die Idee der Gründung einer Organisation deutscher Fliegerinnen jedoch nicht. Schon 1960 war eine Delegation der US-amerikanischen Fliegerinnenvereinigung Ninety-Nines nach Deutschland gekommen. Auf Einladung des Deutschen Aero-Clubs waren mehrere deutsche Fliegerinnen – darunter Elly Beinhorn, Hanna Reitsch, Mutz Trense, Marie-Luise Wessel und Uta Kienle – nach Mannheim zu einem Gespräch mit den amerikanischen Gästen gekommen. Anscheinend schon daheim in den USA hatten die Amerikanerinnen beschlossen, einer deutschen Fliegerin die Aufnahme in die Ninety-Nines anzubieten. Die Ehre fällt auf die Segelfliegerin Uta Kienle, gerade 18 Jahre alt und somit von jeglicher Verwicklung in die NS-Vergangenheit unbelastet. Und Uta akzeptiert, auch wenn Mutz Trense warnt: „Mein Gott, Uta, auf was du dich da einlässt!“ – denn der Mitgliedsbeitrag ist nicht billig. Einige Jahre später folgt ein neuer Kontakt zu den Ninety-Nines, als auf der Rallye um die Goldene Rose 1967 das Thema einer deutschen Fliegerinnenvereinigung erstmals konkret diskutiert wird. Die anwesenden Vertreter des Deutschen Aero-Clubs begrüßen die Idee und unterstützen sie. Und so reisen im Juni 1967 Marie-Luise Wessel, Sylvia Grassmann und Mutz Trense zur Internationalen Konferenz der Ninety-Nines nach Washington D. C./USA. Die drei Frauen kennen sich nicht nur von verschiedenen Rallyes wie der Goldenen Rose und dem Deutschlandflug. Sie teilen auch das Interesse an einer stärkeren Rolle der Frauen in der Fliegerei, träumen von Frauenflugveranstaltungen und einer Fliegerinnenvereinigung. Der USA-Besuch scheint den letzten Anstoß gegeben zu haben, denn zehn Monate später, am 6. April 1968, wagen neun deutsche Fliegerinnen auf Petersau einen rebellischen Schritt.

Mutz wird später simpel erklären: „Also haben wir zu neunt den Verein gegründet. Es sollte kein emanzipierter Frauenverein werden, sondern ein lockerer Zusammenschluss Gleichgesinnter. Die Männer waren immer willkommen.“

Doch die Männerwelt sieht es ein wenig anders. Im Juni 1969 berichtet der Spiegel über die Gründung der VDP: „In Worms gründeten die deutschen Luftsportlerinnen ihr eigenes Damenkränzchen: die ‚Vereinigung Deutscher Pilotinnen‘.“ Die Häme ist offensichtlich, doch das „Damenkränzchen“ belehrt die Welt bald eines Besseren. Aus den neun Fliegerinnen der Gründungsversammlung werden schon ein Jahr später 35, und auf der Jahreshauptversammlung 1971 sogar 61. Das ist ziemlich beachtlich zu einer Zeit, wo fliegenden Frauen immer noch eine Aura von Verruchtheit und Exotik anhängt und der Erwerb eines Motorflugscheins etwa 2.500 Mark kostet. Abschrecken lassen sich die Frauen der VDP davon nicht.

Die VDP ist ein echtes Kind ihrer Zeit, das alle Widersprüchlichkeit ihres Geburtsjahrs verkörpert. Einerseits den durchaus attraktiven und medienwirksamen Traditionen der Frauenfliegerei verhaftet, will die neue Organisation Fliegerinnen endlich den Raum gleichgesinnter und wohlmeinender Nähe gewähren, nach dem sich die Pilotinnen früherer Jahre vergeblich gesehnt hatten. Die Zusammenarbeit bei Flugveranstaltungen, soziales Netzwerken, die Pflege des glamourösen Images, das Pilotinnen und ihren Unternehmungen anhaftet, sind deshalb selbstverständliche Ziele der Gründerinnen. Elly Beinhorn, deren sensationelle Flüge und humorvolle Bücher sie schon zu Lebzeiten zu einer Legende gemacht haben, steht ebenso für diese öffentlichkeitswirksamen und eher konservativen Aspekte des Frauenfliegens wie Mutz Trense und Dr. Marie-Luise Wessel, die aus begütertem Hintergrund stammen und zu den erfolgreichsten Rallyefliegerinnen ihrer Zeit gehören.

Doch selbst den erfolgreichsten unter den deutschen Fliegerinnen ist bewusst, dass ihre Erfolge nur geduldet sind und dass die Zeit traditioneller Rollenbeschränkungen für fliegende Frauen vorüber ist. Sie wollen zum Aufbruch zu neuen Ufern ermuntern, fachlichen Erfahrungsaustausch und Weiterbildung anbieten, endlich den Frauen ihre Hälfte des Himmels eröffnen. Zu den Gründungsmitgliedern gehören deshalb mit Hanna Reitsch und Brigitte Höck auch Pilotinnen, die das Unmögliche möglich gemacht haben, die sich bewährt haben in der schmalsten Nische, die die Fliegerei Frauen zu bieten hat: als Berufspilotinnen. Die VDP, da sind sich ihre Gründerinnen einig, kann eine neue Ära in der ­Geschichte des deutschen Frauenfliegens einleiten.

Die Gründungsmitglieder v.l.n.r.:

  • Brigitte Höck (1934–2017), Mitglieds-Nr. 5
  • Hanna Reitsch (1912–1976), Mitglieds-Nr. 2, Gründungs-Vizepräsidentin der VDP
  • Sylvia Grassmann (1925–2014), Mitglieds-Nr. 7
  • Elly Beinhorn (1907–2007), Mitglieds-Nr. 3, auf der Morane, Gründungs-Vizepräsidentin der VDP
  • Uta Kienle (*1937), Mitglieds-Nr. 6, von 1968 bis 2006 Schatzmeisterin
  • Dr. Marie-Luise Wessel (1917–1984), Mitglieds-Nr. 4, auf ihrer Morane
  • Marliese Harrach-von Michalkowski (1927–?), Mitglieds-Nr. 8
  • Traudl Scheit (*1930), Mitglieds-Nr. 9
  • Clairelotte „Mutz“ Trense (1927–1986), Mitglieds-Nr. 1, Gründungspräsidentin der VDP