Eine Schlüsselszene im Roman: Ihr eifersüchtiger Ehemann George fordert Amelia auf, ihm über ihre Erlebnisse auf einer Reise in umgekehrter Reihenfolge zu berichten. „Ich will sehen, ob du die Wahrheit sagst. Lügen kann man nicht rückwärts erzählen.“
Jo Lendle hat diesen Lakmustest für Wahrheit zu einem Gestaltungsprinzip seines überaus lesenswerten Romans Die Himmelsrichtungen gemacht: Er erzählt die faszinierende Biografie der legendären Flugpionierin Amelia Earhart rückwärts – beginnend mit ihrem letzten Abenteuer, dem gescheiterten Versuch einer Erdumrundung entlang der Äquatorlinie. Über viele Stationen führt er uns durch ihr Leben bis zurück in ihre Kindheit.
Diese Lebensgeschichte ist nicht fiktional, sie „stützt sich auf Amelia Earharts Schriften, Logbücher, Überlieferungen. Ihre Gedichte und viele Briefe sind wörtlich übersetzt. Im Grunde hat sie dieses Buch geschrieben.“ So der Autor im Nachwort.
Lendle gelingt es (nicht nur der Rückwärtsbewegung wegen) glaubwürdig, die Leser auf eine Reise in die Welt der frühen Luftfahrt mitzunehmen und gleichzeitig die Persönlichkeit, die Eigensinnigkeit und den Mut Earharts lebendig werden zu lassen. Er beschreibt Amelias unerschrockene Entschlossenheit und ihren engagierten Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter – auch in der Luftfahrt. Und er lässt uns teilnehmen an der ersten Atlantiküberquerung 1932 – fünf Jahre nach Charles Lindbergh – einer Frau im Alleinflug.
Davor, im Jahr 2028, hatte sie bereits zum ersten Mal den Atlantik überquert. Als Passagierin. Warum ist es so wichtig? Warum wird ihr so viel Aufmerksamkeit zuteil? Im Buch werden gigantischen Konfettiparaden beschrieben. Sie – so Amelias Worte in einem Interview – habe doch „nicht mehr zum Flug beigetragen als ein Sack Kartoffeln“. Lendles Beschreibung dieser Atlantiküberquerung relativiert ihr Statement durchaus – Earharts Rolle war eine leitende. Heutzutage kaum zu verstehen: durch ihren Mitflug nahm sie der Luftfahrt in den Augen ihrer Zeitgenossen den Nimbus des Lebensgefährlichen – „wenn eine Frau das kann, kann es jeder.“
Beeindruckend gelingt es Lendle, die historischen Fakten mit fiktiven Elementen zu verbinden. Die menschliche Figur wird für den Leser hinter der historischen Amelia Earhart intensiv erfahrbar. Die Charakterzeichnung ist tiefgründig und nuancenreich, die Erzählweise humorvoll und ergreifend.
Christine Westermann hat es in ihrer Besprechung wunderbar ausgedrückt: „Die Himmelsrichtungen erzählt die Lebensgeschichte einer Frau, die als Heldin gefeiert wurde, aber nie eine sein wollte. Sie wurde als Kämpferin für die Frauenrechte gefeiert, aber kämpfen wollte sie gar nicht, sie hat die Männer gemocht, manche geliebt, einen geheiratet.“
Ein Buch, das nicht nur Pilotinnen begeistern wird. Jo Lendle hat einer der beeindruckendsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ein literarisches Denkmal gesetzt.
Jo Lendle (*1968) studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. 1999 brachte er mit „Unter Mardern“ seinen Debütroman heraus. Seither publiziert er regelmäßig. Seit 2014 ist er Geschäftsführer Hanser Literaturverlage.
Das Buch hat 256 Seiten und ist bei Penguin erschienen, Gebunden 24,00 €, E-Book 16,99 €